Wir fühlten uns wie im Schloss

Interview mit Floriano, Siedlung Muttenz II
100 Jahre Eisenbahner-Baugenossenschaft beider Basel Jubiläumsbuch, 2011
Text: Claudia Kocher | Fotos: Ursula Sprecher

Im schmalen Eingang fällt als erstes die gerahmte Urkunde auf. 25 Jahre, steht gross in Silber geschrieben. 25 Jahre bei den Schweizerischen Bundesbahnen. Die Urkunden für die weiteren Dienstjubiläen – 30, 35 und 40 Jahre – steckte Floriano später in denselben Rahmen. Allerdings waren die Bescheinigungen auf Notizzettelgrösse geschrumpft. Daneben hängt eine andere Urkunde: jene zur Bestätigung seiner Pensionierung. Überhaupt begegnet man im Daheim der Gelorminis den Diplomen Schritt um Schritt. In der Stube zeugen zum Beispiel Einbürgerungs­dokumente und die Bürgerbriefe von Floriano (Jahrgang 1944), seiner Frau Anna (Jahrgang 1952) und Sohn Michele (geboren 1972) gut sichtbar davon, dass die Italiener richtige Muttenzer geworden sind.

Es war 1961, als Floriano von Italien im süddeutschen Badenweiler ankam. Es war die Zeit des Wirt­schaftswunders mit seiner grossen Nachfrage nach Arbeits­kräften. In einem Hotel arbeitete Floriano erst als Küchenhilfe, ein Jahr darauf hatte er Arbeit in Frankfurt. Zwei seiner Brüder arbeiteten bereits in der Schweiz, einer bei der Bahn. Dort wollte Floriano ebenfalls sein Glück versuchen. Er suchte und fand 1962 eine Stelle als Rangierer in Muttenz. Damals wohnte er im sogenannten «Ledigen­heim» der Schweizerischen Bundesbahnen. Von 1969–1971 arbeitete er bei der Securitas. 1971 kehrte er zu seiner ersten Arbeitgeberin, den SBB, zurück. Schliesslich stand Grosses bevor: Die Hochzeit. Das Mädchen, das seine Frau werden sollte, war im selben Dorf wie er aufge­wachsen: In Ariano Irpino in der Region Kampanien. Doch kennen­gelernt hatte er Anna erst, als er bereits in der Schweiz wohnte. Fast zwangsläufig, denn sein Bruder hatte ihre Stiefschwester geehelicht. «Am 6. September 1971 haben Anna und ich geheiratet. Genau neun Monate später, am 6. Juni 1972, kam unser Sohn auf die Welt. Das war beste Präzisionsarbeit», sagt Floriano und lacht.


Der winkende Landsmann
Die beiden wohnten zuerst in Basel, in einem kleinen Zimmer an der Rheingasse. Später zogen sie an den Schützengraben, wo es allerdings kein warmes Wasser gab. Im Sommer 1972 machten sie einen Abstecher nach Muttenz, um sich die neuen EBG-Häuser in der Schweizer­austrasse anzusehen. Vom Haus Nummer 21 winkte ihnen freundlich ein Italiener zu. Nachdem sie seine Wohnung besichtigt hatten, bewarben sie sich für das Haus Nummer 27, das gerade im Bau war. Die Bewerbung war erfolgreich und im September 1972 zogen sie ein. «Wir waren die ersten Mieter und fühlten uns wie in einem Schloss», so Floriano. «Die Wohnung erschien uns riesig.» Alles in allem hat die Drei-Zimmer-Wohnung 64 Quadrat­meter, inklusive Wintergarten. «Damals zahlten wir 372 Franken Miete. Das war günstig.» Dennoch musste er von den SBB ein Darlehen von 2700 Franken aufnehmen, um neun Anteilsscheine zu erwerben. Heute beträgt der Mietzins 962 Franken. Trotz der höheren Miete – als Palast empfinden die Gelorminis die Wohnung nicht mehr. «Es ist kein Schloss», entschuldigt sich der Hausherr bei der Wohnungsbesichtigung. Mächtig thront dafür in der Stube die Wohnwand. Auf vielen Fotos, die hier ausgestellt sind, steht der Enkelsohn im Mittelpunkt. Der knapp zweijährige Junge wohnt mit seinen Eltern in Neuseeland. Weit weg für die Grosseltern.

Die kleine Küche wurde vor zwei Jahren renoviert. Im Wintergarten stehen Pflanzen, die an den Sohn in der Ferne erinnern. Ein grosser Kühlschrank. «Hier lagern wir alles Mögliche», sagt Anna. Wie auch im ehemaligen Kinderzimmer. «Wir müssen räumen. Aber es ist nicht einfach, sich von diesen Gegenständen zu trennen.» An einer Türe hängt noch immer das Schild, das Michele einst anbrachte, als er hier wohnte: «Eintritt für Unbefugte verboten».

Im Schlafzimmer: ein Schrank und ein Bett. In dem katholischen Haushalt fehlt natürlich auch das Bild des Papstes nicht. Das Bad wurde vor zwei Jahren renoviert. «Eigentlich wäre fürs Wohnen im Alter eine Dusche besser», findet Floriano. Und auch ein Lift wäre nicht schlecht. Das Ehepaar hat nämlich vor, so lange wie möglich in ihrer Wohnung zu bleiben. Nur einmal machten sie sich Gedanken darüber, in ihre Heimat zurückzukehren. Das war in den siebziger Jahren, als die Schwarzenbach-Initiative hierzulande Überfremdungsängste schürte. Später bauten sie auch ein Haus in Italien, das aber schon seit vielen Jahren leer steht. «Viel Wert hat es nicht mehr», meint Floriano. Das Heimweh wurde immer schwächer. Das lag auch daran, dass die Familie in den Wohnblocks der EBG an der Schweizeraustrasse schnell Kontakt fand. Viele Eisenbähnler wohnten hier.

Auch konnten sie sich damals eine Wohnung aussuchen, die nicht nach hinten, auf die Autobahn, ging, sondern auf die ruhige Quartierstrasse. So oder so lag die Wohnung ganz in der Nähe zum Rangierbahnhof, wo Gelormini seit 1971 arbeitete. Zuerst als Hilfsarbeiter, dann als Rangierarbeiter, schliesslich als Vorgesetzter. Und immer Schicht: Nachtschicht, Mittelschicht, Tagdienst. Seine Frau passte sich dem Rhythmus jeweils an, stand in der Nacht auf, bereitete ihm Brote zu. «Irgendwann sagte ich ihr, dass sie das nicht mehr tun müsse. Aber sie tat es gerne.» Anna lächelt.


Bühnentalent
Anfangs war das Geld knapp. Anna ging putzen. Später verlegt sie sich auf das Nähen, Stricken und Häkeln. «Ich wollte immer Schneiderin werden». Doch geklappt habe es nicht. Dafür besuchte sie Näh- und Deutschkurse. Heute ist die Gartenarbeit zu ihrer beider Hobby geworden. Nicht weit entfernt von der Wohnung bebaut das Ehepaar einen Garten. Auf zwei Aren wachsen da Kartoffeln, Peperoni, Zwiebeln, Erbsen, Salat, Krautstiel. Floriano  hat ein weiteres Hobby, das ihn umtreibt. Er ist Laienschauspieler im italienischsprachigen Teatro Primo Sole. Gerade müsse er zu Proben, sagt er und zeigt das Skript. «Ich lerne die Texte besser als er», sagt seine Frau, die ihm beim Auswendiglernen hilft. Allerdings käme sie nie auf die Idee, auf einer Bühne zu stehen. «Ich mag mich nicht so darstellen.» Auf Florianos Bühnentalent wollte auch die EBG für ihr Jubiläumstheater­stück nicht verzichten. Bei der Aufführung an der Generalversammung vom 27. Mai 2011 hatte er die Lacher auf seiner Seite.

Floriano kennt jeden Mieter und jede Mieterin im Haus. Und alle kennen ihn. Er weiss, wer alleine wohnt, wer eine Freundin hat. Was man halt so alles weiss, wenn man pensioniert ist. Und wenn man sich hier wie zu Hause fühlt.

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