Der Mann mit der roten Mütze

Interview mit Turi, Siedlung Sternenfeld II
100 Jahre Eisenbahner-Baugenossenschaft beider Basel Jubiläumsbuch, 2011
Text: Claudia Kocher | Fotos: Ursula Sprecher

Die Versetzung nach Basel kam blitzartig. Es war zwar klar, dass der Luzerner Turi (Jahrgang 1940) als Bahnbetriebsdisponent irgendwann nach Basel kommen sollte. Aber wegen der 50. Mustermesse 1966 musste es dann doch schneller gehen als erwartet. Eine Wohnung war allerdings nicht so einfach zu finden. «Es herrschte grosse Wohnungsnot», erzählt Turi in seinem Wintergarten an der Sonnenbergstrasse 38 in Birsfelden. Die SBB haben damals zwar Häuser an der Birsfelderstrasse in Muttenz gebaut. Doch zu spät für Turi, der vorerst ein Zimmer in Basel bezog, derweil seine Frau Maya mit ihrem Sohn im aargauischen Sins blieb. Schliesslich fand sich eine Wohnung in Birsfelden, am Birsquai. Doch weil es hiess, die drei Häuser würden bald abgerissen – sie stehen heute noch dort – ging die Suche weiter. «Da war es naheliegend, dass wir uns für eine Wohnung der EBG bewarben.» Mit 3600 Franken für die Anteilsscheine waren die dabei. Das habe damals etwa zwei Monatslöhnen entsprochen, sei also ein «happiger» Betrag gewesen. Für die rund 90 Quadratmeter zahlten sie im neu erstellten Block damals 579 Franken inklusive Nebenkosten. Sternenfeld II heisst die Überbauung, die 1972 erstellt wurde und 138 Wohnungen umfasst. Das zweite Kind, ein Mädchen, war bereits geboren, als die Familie in die Vier-Zimmer-Wohnung einzog. Sie waren erst die zweiten Mieter im Haus. Ausgesucht hatten sie sich die Wohnung im fünften Stock.

Die Pssst-Kinder
Turi arbeitete bei der Bahn als Souschef. «Ich war der Mann mit der roten Mütze», erzählt er. Den Beruf gebe es heute nicht mehr, leider. Später arbeitete er als Personaleinteiler, als Fahrdienstleiter im Rangierbahnhof, als Bahnhofvorstand im Birsfelder Hafen sowie in Pratteln. Die unregelmässigen Dienste brachten einige Probleme mit sich – gerade auch was das Zusammenleben in der Siedlung betraf. «Ende der 70er Jahre gab es etwa 30 Kinder hier im Block, da war was los». Kinderlärm. Oft musste Turi Caccivio um 3 Uhr morgens aufstehen – und entsprechend früh ins Bett. Immerhin ging das Schlaf­zimmer «nur» auf den Auhafen und nicht auf das gegen­überliegende Schulhaus. Trotzdem musste manchmal einfach Ruhe sein. So erhielten die Kinder der Eisenbahner auch den Übernamen «die Pssst-Kinder». «Ich glaube, das Zusammenleben hat nur funktioniert, weil alle im Haus Eisenbahner waren und unregelmässige Arbeitszeiten hatten», sagt Turi. Das habe zumindest das Verständnis untereinander gefördert. Die Wohnung ist hell, die Aussicht lohnend – wenn auch die Hochhäuser rundherum die Aussicht auf den Blauen auf der einen und auf den Schwarzwald auf der anderen Seite beeinträchtigen. Die Caccivios haben in ihren eigenen vier Wänden vieles eigenhändig renoviert. Sie haben bereits vor etlichen Jahren eine neue Küche einbauen lassen und fast alle Böden neu verlegt. Als Genossenschafter habe man einen einfachen Standard in den Wohnungen, erklärt Turi. Das sei gut, denn so bleibe die Miete günstig. Wer mehr wolle, müsse dies selbst in die Hand nehmen oder mehr Miete bezahlen.

Nach seiner Pensionierung amtete Turi während eines Jahrs als Vizepräsident der EBG. Fünf Jahre lang gab er den EBG-Kurier heraus, das Informationsblatt für die Mieter. Er unterstützte die Bestrebungen des erneuerten Vorstandes für eine professionelle Geschäfts­leitung. Klar seien damit die Kosten für den Büroaufwand gestiegen, sagt Turi. Andererseits sanken die Ausgaben für Energie von 22 Prozent im Jahr 1981 auf aktuell nur noch 4 Prozent. Die Effizienz mache sich auch auf anderer Ebene bemerkbar: Heute könne fast die Hälfte von jedem Mieterfranken in den Unterhalt reinvestiert werden. Früher waren es gerade mal 20 Prozent. «Das ist absolut erfreulich.» Deswegen verstehe er die Kritik von gewissen Mietern an der professionell geführten Geschäftsleitung nicht.

Doch sind viele Bewohner heute keine Eisenbähnler mehr. «Die Identifikation mit der EBG hat gegenüber früher abgenommen», konstatiert Turi. So ist in den neuen Statuten auch festgehalten, dass Neumieter erst nach einem Jahr Genossenschafter werden können. Man sei vorsichtig geworden. «Die Leute müssen aus dem richtigen Holz geschnitzt sein.» Denn ist man erst einmal Genossenschafter, sei man praktisch unkündbar. Und da ist noch etwas, das Turi beschäftigt: «Als wir hierherkamen, waren alle aktiv und hatten Familie.» Heute gebe es viele Alleinstehende, die Unterstützung brauchten.

Dass die zwei jung und aktiv bleiben, hat auch mit ihren Enkelkindern zu tun, die oft zu den Grosseltern auf Besuch kommen. Sie haben ein eigenes Zimmer mit Kajütenbett. Spielsachen wie Kochherd und Verkäuferli­laden sind komplett vorhanden. Auch die vielen Zeichnungen, Fotos und Bastelarbeiten, die die Wände und Regale schmücken, lassen auf häufigen Kinderbesuch schliessen. «Wir leben, wir räumen nicht auf», meint der Hausherr. Obwohl: in der Wohnung herrscht Ordnung. Dafür sorgt in erster Linie Maya, die auch diesen Morgen bereits in der Waschküche und beim Ein­kauf war. Unter den Eisenbähnlern gebe es wegen des Schichtbetriebs der Männer nur wenig Frauen, die einer regelmässigen Arbeit nachgehen könnten, sagt Turi.


Kein weiteres Hochhaus
Ein grosses Sofa füllt die Stube aus. Hier wird gesessen, ferngesehen. Besonders aber geniesst Turi den Aufenthalt im Wintergarten. Dort studiert er am liebsten die Zeitung und hält sich über das Geschehen in der Gemeinde auf dem Laufenden. Der amtierende Präsident des Wahlbüros war einst SP-Einwohnerrat und Einwohnerratspräsident von Birsfelden. Ausserdem präsidierte er den Verein für Schuljugend. Besonders stolz denkt er an den denkwürdigen Abstimmungskampf um den Bau eines Hochhauses an der Schleuse zurück. Obwohl der Gemeinderat und fast alle Parteien für den Bau waren, wurde dieses Projekt an der Gemeindeversammlung verworfen. «Der erfolgreiche Widerstand nahm seinen Anfang in der EBG-Genossenschaft», präzisiert Turi. Seine politischen Ambitionen, vor allem aber sein Engagement bei der EBG, kamen so richtig erst nach der Pensionierung zur Geltung. «Vorher nahmen die Arbeit und die Familie viel Zeit in Anspruch.» Die unregelmässigen Arbeitszeiten hätten aber auch Vorteile gehabt. So habe er mit den Kindern tagsüber oft ins Schwimmbad gehen können. Was ihn zeitweilen sogar dem Verdacht ausgesetzt habe, er sei Bademeister – und gar kein Bähnler.

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